[:en]tanja Becher: Nach dem Gedächtnis[:]

[:fi]Über Mika Karhus Ausstellung „Muistin jälkeen“ („Nach dem Gedächtnis”) in der Galleria Heino, Helsinki, Januar 2015

Tanja Becher


Karhu wurde im Jahre 1969 in Joensuu, Finnland, geboren. Heute lebt er in Hyvinkää, Finnland. Der Künstler hat eine vielfältige Ausbildung: neben der bildenden Künste und Grafik hat er beispielsweise theoretische Philosophie, Mikrobiologie und Neuropsychologie studiert. Karhu besitzt einen Doktortitel der Künste und arbeitet als internationaler Künstler, Wissenschaftler, Kurator und Dozent für Kunst und Design an der Aalto Universität in Helsinki. Seine Kunst ist genauso vielseitig wie der mehrfach mit Preisen und Stipendien ausgezeichnete Künstler selbst: neben Bildender Kunst gehören auch Video- und Installationswerke zu seinem Repertoire.

drawing Mika Karhu

Kaikki vaikenee / valehtelee, 2014 Pigmentdruck, 138 x 128 cm

Für einen Einblick in die Werke Karhus, analysiere ich zunächst eines der großformatigen Bilder „Kaikki vaikenee / valehtelee“ (Den finnischen Titel kann man sowohl als „Alles verstummt / lügt” als auch als „Alle verstummen / lügen“ übersetzen.) aus der oben genannten Januar-Ausstellung.

Es handelt sich um einen Pigmentdruck aus dem Jahre 2014 in der Größe 138 x 128 cm, der eine schwere, melancholische Stimmung ausstrahlt. Der Titel „Kaikki vaikenee / valehtelee“ setzt das Verstummen mit der Lüge gleich. Wenn wir verstummen bedeutet dies oft, dass wir etwas nicht kommunizieren. Diese fehlenden Worte wären die Wahrheit, das Verstummen hingegen empfinden wir als Lüge. Dieses Werk erinnert den Betrachter an die Male, als er verstummte, obwohl er doch etwas hätte sagen sollen. Diese Wortlosigkeit und Tatenlosigkeit fühlt sich falsch an. Allein schon der Titel des Werkes erweckt in uns ein Gefühl der Scham und der Schuld. Diese Stimmung vermittelt sich auf den ersten Blick und festigt sich bei näherer Betrachtung des Bildes.

Das Werk zeigt das Gesicht eines älteren Menschen, jedoch nur unscharf. Der Blick ist nach oben rechts gerichtet, jedoch stimmt irgendetwas nicht: es ist nicht das normale Gesicht eines Alten. Über das Bild breitet sich aus der Mitte ein schwarzer Fleck. Obwohl die Gesichtszüge realistisch dargestellt sind, wirkt es, als gehörten Augen- und Mundpartie nicht zusammen. Zu den Rändern hin verschwimmt das Bild in ein tiefes Schwarz, wie auch in die Mitte zu dem merkwürdigen Fleck. Der Rest des Werkes ist eher hell, in verschiedenen Graustufen. Das Gesicht erstreckt sich über das Bild hinaus. Die obere Kante schneidet das Gesicht an der Stirn ab, die untere am Hals. Auch die linke Wange und das rechte Ohr der Gestalt bleiben außerhalb des Formates. Dadurch kommt die Gestalt dem Betrachter zwar nahe, die schwarzen Ecken und der schwarze Fleck jedoch halten sie auf Distanz.

Bei genauerer Analyse des Werkes und dessen Entstehung, stößt man auf Fotos aus der nationalsozialistischen Geschichte, die als Vorlage für das Bild verwendet wurden. Das Gesicht der Gestalt besteht aus drei Teilen: der obere Teil gehört zu Adolf Hitler, der untere zu einem KZ-Häftling und der schwarze Fleck an der Stelle der Nase zu dem Schatten eines NS-Soldaten. Alle drei Teile gehören zu Personen, die den zweiten Weltkrieg miterlebten – jeder aus einer anderen Perspektive.

Hitler betrachtete die Geschehnisse aus der Ferne, von oben, jedoch nicht mit klarem Blick. Im Bild scheint der obere Teil des Gesichtes weiter weg zu sein als der untere, was ihn vom Betrachter distanziert. Den Blick in die Ferne gerichtet, wirken die Augen der Gestalt heller als normal, erinnern an die eines Blinden.

In der Mitte des Bildes befindet sich der Schatten des Soldaten. In Diktaturen bleibt den Soldaten oft nichts Menschliches mehr außer dem eigenen Schatten. Beim Anlegen ihrer Uniform, legen sie ihre eigene Persönlichkeit, das eigene Gesicht, die Stimme und den Willen ab – dienen nur noch dem Zweck und dem befehlgebenden Führer. Der Soldat führt seine Funktion als Zwischenelement von Führer und Volk aus. Er ist die Verbindung, jedoch steht er auch der direkten Kommunikation beider Parteien im Weg.

Die untere Gesichtshälfte im Bild ist nach oben gerichtet und zeigt sich dem Betrachter leicht schräg von unten. Im Gegensatz zu Hitlers Perspektive ist der KZ-Gefangene inmitten der brutalen Geschehnisse und Menschenmengen. Seine Blickrichtung geht von unten nach oben an den Führer, den Zerstörer. Seine Mundwinkel sind voller Falten und die Lippen zusammengepresst. Die Gestalt wirkt ernst, fast schon traurig – und doch charakterstark. Nach all dem, was sie gesehen und erlebt hat, scheint sie ihre Selbstachtung und ihren Stolz noch nicht verloren zu haben.

Betrachtet man den Titel des Werkes (‚Alles verstummt / lügt‘ oder ‚Alle verstummen / lügen‘) näher, stellt sich einem die Frage, wer oder was verstummt und lügt. Die Personen des Bildes kommunizieren weder unter sich, noch mit dem Betrachter: die Augen des oberen Teils scheinen blind zu sein, der Schatten besitzt noch nicht einmal ein Gesicht und die Lippen des unteren Teils sind fest aufeinander gepresst.

Der Name des Werks suggeriert, dass alle verstummen und somit lügen. Dies kann man auf die Personen des Bildes beziehen – wieso haben damals die Menschen nicht genug gegen die Brutalitäten unternommen? – aber auch auf die Menschen der heutigen Zeit: wollen wir nicht alle die schlimmen Erfahrungen nur vergessen und uns den gemütlichen Themen widmen? Was passiert, wenn wir über Themen wie Faschismus und Rassismus und deren Geschichte schweigen? Heißt das denn nicht, dass wir uns sträuben, die Vergangenheit zu akzeptieren und aus unseren Fehlern zu lernen? Der Künstler belebt ein Thema, das seiner Meinung nach noch nicht zu Ende behandelt wurde. Zu dem man nicht verstummen darf. Das Werk erinnert uns daran, dass jeder Mensch viele Facetten hat. Jeder trägt die Möglichkeit zum Guten und Bösen in sich. Das Erkennen der eigenen dunklen Seite beschämt uns.

Der zweite Weltkrieg ist noch keine hundert Jahre her und doch nur noch selten ein Thema im heutigen Finnland. Lieber erinnert man sich an positive Ereignisse wie Finnlands Unabhängigkeitserklärung (1917).

Menschen verstummen, wenn sie Zeuge von etwas werden, wobei sie sich unwohl fühlen und das sie beschämt. Der zweite Weltkrieg ist sicherlich ein Thema, das viele gerne möglichst schnell vergäßen, da der Gedanke daran kein angenehmer ist. Wenn wir aber verstummen, heißt das nicht, einander und uns selbst zu belügen?

Eine weitere Interpretation des Titels ist, dass Bilder der Vergangenheit verstummen und lügen. Wenn ein Ereignis schon Jahrzehnte zurückliegt und der Großteil der heutigen Bevölkerung diese nicht miterlebt hat, bildet sich eine gewisse Distanz. Man kann nicht wissen, wie etwas gewesen ist, wenn man nicht selbst Teil davon war. Wenn wir also heutzutage Bilder aus Nazi-Deutschland betrachten, wissen wir zwar was sie bedeuten, aber werden niemals verstehen, was diese wirklich beinhalten. Ein Bild zeigt nur einen kleinen Ausschnitt der Wahrheit, verstummt jedoch über andere Blickwinkel.

Die im Werk angewandte Technik erinnert an ein Schwarz-Weiß-Foto, das am Verblassen ist; aus dem mit der Zeit Informationen entschwinden, wie auch tagtäglich aus den Erinnerungen der Geschehnisse. Viele Zeitzeugen sind nicht mehr am Leben, und sobald diese sterben, stirbt auch ein Teil der Wahrheit. Was uns bleibt, sind dokumentierte Erinnerungen davon, was einmal Wirklichkeit war. Auch diese verstummen immer mehr, je weiter die Ereignisse hinter uns bleiben. Die jüngeren Generationen haben nicht mehr die gleiche Verbindung mit dieser Vergangenheit. Der Begriff der Wahrheit wird verzerrt, da immer mehr und mehr Informationen aus erster Hand verschwinden.

Durch die schwarz-weiße Farbskala erlangt das Bild eine starke Wirkung: wir assoziieren automatisch die Vergangenheit mit schwarz-weißen Bildern. Sie erinnern uns an alte Fotos, als es noch keine Farbbildkameras oder Farbbildschirme gab. Bei genauerem Hinsehen bemerkt man, dass das Bild gar nicht schwarz-weiß ist, sondern unzählige Grautöne beinhaltet – ebenso wie es unzählige, unterschiedliche Erinnerungen von der Wirklichkeit gibt. Bemerkenswert ist auch, dass aus schwarz-weißen Bildern wesentliche Informationen fehlen: die Farben.

Der Name der Ausstellung „Nach dem Gedächtnis“ gibt weiteren Aufschluss über die Thematik. Wenn wir etwas erleben, bleiben uns davon Erinnerungen. Jedoch ist das nicht das Einzige, was geschieht. Erinnerungen werden zwar in unser Gedächtnis abgespeichert, jedoch werden sie mit vielen weiteren Ebenen verknüpft: anderen Erlebnissen, Gefühlen, unserer Persönlichkeit und Lebenseinstellung, etc. Das Gedächtnis ist teil eines großen Ganzen, ein Teil der Psyche und des Körpers. Es ist immer subjektiv und nie dasselbe wie die Wirklichkeit.

Bild Ausstellungsansicht Galerie Heino

Ausstellungsansicht Galerie Heino

Alle Werke der Ausstellung betonen diese Subjektivität unserer Erinnerungen. Keines der Bilder ist eindeutig interpretierbar, mehrere sind aus verschiedenen Perspektiven oder Bildern zusammengefügt. Zu der Ausstellung gehören fünfzehn schwarzweiße Bilder: sechs kleine (52,5 x 42,5 cm), vier mittelgroße (72,5 x 52,5 cm) und fünf großformatige (über 72,5 x 52,5 cm). Darunter Pigmentdrucke, Mischtechnik und Tuschewerke. Die Stimmung ist einheitlich: bedrückend und den Betrachter aufwühlend.

In der Komposition des Ausstellungsraumes kann man Karhus Erfahrung als Kurator erkennen. Die Räumlichkeiten einer Ausstellung haben eine große Auswirkung auf die Wahrnehmung der Werke. Die Galerie Heino besteht aus drei halboffenen Ausstellungsräumen. Die Werke von Mika Karhu waren im ersten Raum platziert, der von der Straße aus einsehbar ist.

Die Hängung hatte eine ausgewogene Rhythmik: die zahlreichen kleineren Bilder hingen gegenüber der wenigen größeren und ihre Mittelachsen waren auf gleicher Höhe. Beim Betreten der Galerie prüft der Besucher zunächst den ganzen Raum mit Hilfe seines Blickes. Die in neutralem Grau gestrichene frontale Wand in der Mitte hält den Blick an und fängt ihn auf. Somit haben die Augen einen Ruhepunkt. Zusätzlich grenzt das Grau den Raum deutlicher von dem dahinterliegenden zweiten Raum ab. Auch die Beleuchtung wurde gekonnt inszeniert: die direkt auf die Werke gerichteten Spots lenken die Aufmerksamkeit.

Mika Karhu kommentiert mit seinen Werken gesellschaftlich-politische Themen. Er bildet jedoch nicht einfach unseren Alltag ab, sondern etwas, was zwar immer da ist, aber erst wahrgenommen wird, wenn wir unser Selbst und unsere Umgebung bewusst beobachten.

Menschen verlassen ungern ihre Wohlfühlzone und halten Unangenehmes und Unbekanntes von sich fern. Die Werke von Karhu sind außerhalb unserer Wohlfühlzone, aber gleichzeitig auch so unwiderstehlich interessant, dass wir uns trauen unsere Grenzen zu überschreiten. Man möchte die Werke ausführlich betrachten, um sie und die eigenen Reaktionen genauestens zu erforschen. Die Werke fordern sowohl unser Auge als auch unser Gehirn heraus, indem sie beim Betrachter schnell wechselnde Gefühle des Erkennens, der Unsicherheit und der Neugierde erwecken. Dieser innere Konflikt ist es, was uns in Mika Karhus Werken anspricht und nicht mehr loslässt.

Tanja Becher 2015
Studentin der Kunstgeschichte, Helsinki[:en]Über Mika Karhus Ausstellung „Muistin jälkeen“ („Nach dem Gedächtnis”) in der Galleria Heino, Helsinki, Januar 2015

Tanja Becher


 

Karhu wurde im Jahre 1969 in Joensuu, Finnland, geboren. Heute lebt er in Hyvinkää, Finnland. Der Künstler hat eine vielfältige Ausbildung: neben der bildenden Künste und Grafik hat er beispielsweise theoretische Philosophie, Mikrobiologie und Neuropsychologie studiert. Karhu besitzt einen Doktortitel der Künste und arbeitet als internationaler Künstler, Wissenschaftler, Kurator und Dozent für Kunst und Design an der Aalto Universität in Helsinki. Seine Kunst ist genauso vielseitig wie der mehrfach mit Preisen und Stipendien ausgezeichnete Künstler selbst: neben Bildender Kunst gehören auch Video- und Installationswerke zu seinem Repertoire.

 

 

drawing Mika Karhu

Kaikki vaikenee / valehtelee, 2014 Pigmentdruck, 138 x 128 cm

Für einen Einblick in die Werke Karhus, analysiere ich zunächst eines der großformatigen Bilder „Kaikki vaikenee / valehtelee“ (Den finnischen Titel kann man sowohl als „Alles verstummt / lügt” als auch als „Alle verstummen / lügen“ übersetzen.) aus der oben genannten Januar-Ausstellung.

Es handelt sich um einen Pigmentdruck aus dem Jahre 2014 in der Größe 138 x 128 cm, der eine schwere, melancholische Stimmung ausstrahlt. Der Titel „Kaikki vaikenee / valehtelee“ setzt das Verstummen mit der Lüge gleich. Wenn wir verstummen bedeutet dies oft, dass wir etwas nicht kommunizieren. Diese fehlenden Worte wären die Wahrheit, das Verstummen hingegen empfinden wir als Lüge. Dieses Werk erinnert den Betrachter an die Male, als er verstummte, obwohl er doch etwas hätte sagen sollen. Diese Wortlosigkeit und Tatenlosigkeit fühlt sich falsch an. Allein schon der Titel des Werkes erweckt in uns ein Gefühl der Scham und der Schuld. Diese Stimmung vermittelt sich auf den ersten Blick und festigt sich bei näherer Betrachtung des Bildes.

Das Werk zeigt das Gesicht eines älteren Menschen, jedoch nur unscharf. Der Blick ist nach oben rechts gerichtet, jedoch stimmt irgendetwas nicht: es ist nicht das normale Gesicht eines Alten. Über das Bild breitet sich aus der Mitte ein schwarzer Fleck. Obwohl die Gesichtszüge realistisch dargestellt sind, wirkt es, als gehörten Augen- und Mundpartie nicht zusammen. Zu den Rändern hin verschwimmt das Bild in ein tiefes Schwarz, wie auch in die Mitte zu dem merkwürdigen Fleck. Der Rest des Werkes ist eher hell, in verschiedenen Graustufen. Das Gesicht erstreckt sich über das Bild hinaus. Die obere Kante schneidet das Gesicht an der Stirn ab, die untere am Hals. Auch die linke Wange und das rechte Ohr der Gestalt bleiben außerhalb des Formates. Dadurch kommt die Gestalt dem Betrachter zwar nahe, die schwarzen Ecken und der schwarze Fleck jedoch halten sie auf Distanz.

Bei genauerer Analyse des Werkes und dessen Entstehung, stößt man auf Fotos aus der nationalsozialistischen Geschichte, die als Vorlage für das Bild verwendet wurden. Das Gesicht der Gestalt besteht aus drei Teilen: der obere Teil gehört zu Adolf Hitler, der untere zu einem KZ-Häftling und der schwarze Fleck an der Stelle der Nase zu dem Schatten eines NS-Soldaten. Alle drei Teile gehören zu Personen, die den zweiten Weltkrieg miterlebten – jeder aus einer anderen Perspektive.

Hitler betrachtete die Geschehnisse aus der Ferne, von oben, jedoch nicht mit klarem Blick. Im Bild scheint der obere Teil des Gesichtes weiter weg zu sein als der untere, was ihn vom Betrachter distanziert. Den Blick in die Ferne gerichtet, wirken die Augen der Gestalt heller als normal, erinnern an die eines Blinden.

In der Mitte des Bildes befindet sich der Schatten des Soldaten. In Diktaturen bleibt den Soldaten oft nichts Menschliches mehr außer dem eigenen Schatten. Beim Anlegen ihrer Uniform, legen sie ihre eigene Persönlichkeit, das eigene Gesicht, die Stimme und den Willen ab – dienen nur noch dem Zweck und dem befehlgebenden Führer. Der Soldat führt seine Funktion als Zwischenelement von Führer und Volk aus. Er ist die Verbindung, jedoch steht er auch der direkten Kommunikation beider Parteien im Weg.

Die untere Gesichtshälfte im Bild ist nach oben gerichtet und zeigt sich dem Betrachter leicht schräg von unten. Im Gegensatz zu Hitlers Perspektive ist der KZ-Gefangene inmitten der brutalen Geschehnisse und Menschenmengen. Seine Blickrichtung geht von unten nach oben an den Führer, den Zerstörer. Seine Mundwinkel sind voller Falten und die Lippen zusammengepresst. Die Gestalt wirkt ernst, fast schon traurig – und doch charakterstark. Nach all dem, was sie gesehen und erlebt hat, scheint sie ihre Selbstachtung und ihren Stolz noch nicht verloren zu haben.

Betrachtet man den Titel des Werkes (‚Alles verstummt / lügt‘ oder ‚Alle verstummen / lügen‘) näher, stellt sich einem die Frage, wer oder was verstummt und lügt. Die Personen des Bildes kommunizieren weder unter sich, noch mit dem Betrachter: die Augen des oberen Teils scheinen blind zu sein, der Schatten besitzt noch nicht einmal ein Gesicht und die Lippen des unteren Teils sind fest aufeinander gepresst.

Der Name des Werks suggeriert, dass alle verstummen und somit lügen. Dies kann man auf die Personen des Bildes beziehen – wieso haben damals die Menschen nicht genug gegen die Brutalitäten unternommen? – aber auch auf die Menschen der heutigen Zeit: wollen wir nicht alle die schlimmen Erfahrungen nur vergessen und uns den gemütlichen Themen widmen? Was passiert, wenn wir über Themen wie Faschismus und Rassismus und deren Geschichte schweigen? Heißt das denn nicht, dass wir uns sträuben, die Vergangenheit zu akzeptieren und aus unseren Fehlern zu lernen? Der Künstler belebt ein Thema, das seiner Meinung nach noch nicht zu Ende behandelt wurde. Zu dem man nicht verstummen darf. Das Werk erinnert uns daran, dass jeder Mensch viele Facetten hat. Jeder trägt die Möglichkeit zum Guten und Bösen in sich. Das Erkennen der eigenen dunklen Seite beschämt uns.

Der zweite Weltkrieg ist noch keine hundert Jahre her und doch nur noch selten ein Thema im heutigen Finnland. Lieber erinnert man sich an positive Ereignisse wie Finnlands Unabhängigkeitserklärung (1917).

Menschen verstummen, wenn sie Zeuge von etwas werden, wobei sie sich unwohl fühlen und das sie beschämt. Der zweite Weltkrieg ist sicherlich ein Thema, das viele gerne möglichst schnell vergäßen, da der Gedanke daran kein angenehmer ist. Wenn wir aber verstummen, heißt das nicht, einander und uns selbst zu belügen?

Eine weitere Interpretation des Titels ist, dass Bilder der Vergangenheit verstummen und lügen. Wenn ein Ereignis schon Jahrzehnte zurückliegt und der Großteil der heutigen Bevölkerung diese nicht miterlebt hat, bildet sich eine gewisse Distanz. Man kann nicht wissen, wie etwas gewesen ist, wenn man nicht selbst Teil davon war. Wenn wir also heutzutage Bilder aus Nazi-Deutschland betrachten, wissen wir zwar was sie bedeuten, aber werden niemals verstehen, was diese wirklich beinhalten. Ein Bild zeigt nur einen kleinen Ausschnitt der Wahrheit, verstummt jedoch über andere Blickwinkel.

Die im Werk angewandte Technik erinnert an ein Schwarz-Weiß-Foto, das am Verblassen ist; aus dem mit der Zeit Informationen entschwinden, wie auch tagtäglich aus den Erinnerungen der Geschehnisse. Viele Zeitzeugen sind nicht mehr am Leben, und sobald diese sterben, stirbt auch ein Teil der Wahrheit. Was uns bleibt, sind dokumentierte Erinnerungen davon, was einmal Wirklichkeit war. Auch diese verstummen immer mehr, je weiter die Ereignisse hinter uns bleiben. Die jüngeren Generationen haben nicht mehr die gleiche Verbindung mit dieser Vergangenheit. Der Begriff der Wahrheit wird verzerrt, da immer mehr und mehr Informationen aus erster Hand verschwinden.

Durch die schwarz-weiße Farbskala erlangt das Bild eine starke Wirkung: wir assoziieren automatisch die Vergangenheit mit schwarz-weißen Bildern. Sie erinnern uns an alte Fotos, als es noch keine Farbbildkameras oder Farbbildschirme gab. Bei genauerem Hinsehen bemerkt man, dass das Bild gar nicht schwarz-weiß ist, sondern unzählige Grautöne beinhaltet – ebenso wie es unzählige, unterschiedliche Erinnerungen von der Wirklichkeit gibt. Bemerkenswert ist auch, dass aus schwarz-weißen Bildern wesentliche Informationen fehlen: die Farben.

Der Name der Ausstellung „Nach dem Gedächtnis“ gibt weiteren Aufschluss über die Thematik. Wenn wir etwas erleben, bleiben uns davon Erinnerungen. Jedoch ist das nicht das Einzige, was geschieht. Erinnerungen werden zwar in unser Gedächtnis abgespeichert, jedoch werden sie mit vielen weiteren Ebenen verknüpft: anderen Erlebnissen, Gefühlen, unserer Persönlichkeit und Lebenseinstellung, etc. Das Gedächtnis ist teil eines großen Ganzen, ein Teil der Psyche und des Körpers. Es ist immer subjektiv und nie dasselbe wie die Wirklichkeit.

Bild Ausstellungsansicht Galerie Heino

Ausstellungsansicht Galerie Heino


Alle Werke der Ausstellung betonen diese Subjektivität unserer Erinnerungen. Keines der Bilder ist eindeutig interpretierbar, mehrere sind aus verschiedenen Perspektiven oder Bildern zusammengefügt. Zu der Ausstellung gehören fünfzehn schwarzweiße Bilder: sechs kleine (52,5 x 42,5 cm), vier mittelgroße (72,5 x 52,5 cm) und fünf großformatige (über 72,5 x 52,5 cm). Darunter Pigmentdrucke, Mischtechnik und Tuschewerke. Die Stimmung ist einheitlich: bedrückend und den Betrachter aufwühlend.

In der Komposition des Ausstellungsraumes kann man Karhus Erfahrung als Kurator erkennen. Die Räumlichkeiten einer Ausstellung haben eine große Auswirkung auf die Wahrnehmung der Werke. Die Galerie Heino besteht aus drei halboffenen Ausstellungsräumen. Die Werke von Mika Karhu waren im ersten Raum platziert, der von der Straße aus einsehbar ist.

Die Hängung hatte eine ausgewogene Rhythmik: die zahlreichen kleineren Bilder hingen gegenüber der wenigen größeren und ihre Mittelachsen waren auf gleicher Höhe. Beim Betreten der Galerie prüft der Besucher zunächst den ganzen Raum mit Hilfe seines Blickes. Die in neutralem Grau gestrichene frontale Wand in der Mitte hält den Blick an und fängt ihn auf. Somit haben die Augen einen Ruhepunkt. Zusätzlich grenzt das Grau den Raum deutlicher von dem dahinterliegenden zweiten Raum ab. Auch die Beleuchtung wurde gekonnt inszeniert: die direkt auf die Werke gerichteten Spots lenken die Aufmerksamkeit.

Mika Karhu kommentiert mit seinen Werken gesellschaftlich-politische Themen. Er bildet jedoch nicht einfach unseren Alltag ab, sondern etwas, was zwar immer da ist, aber erst wahrgenommen wird, wenn wir unser Selbst und unsere Umgebung bewusst beobachten.

Menschen verlassen ungern ihre Wohlfühlzone und halten Unangenehmes und Unbekanntes von sich fern. Die Werke von Karhu sind außerhalb unserer Wohlfühlzone, aber gleichzeitig auch so unwiderstehlich interessant, dass wir uns trauen unsere Grenzen zu überschreiten. Man möchte die Werke ausführlich betrachten, um sie und die eigenen Reaktionen genauestens zu erforschen. Die Werke fordern sowohl unser Auge als auch unser Gehirn heraus, indem sie beim Betrachter schnell wechselnde Gefühle des Erkennens, der Unsicherheit und der Neugierde erwecken. Dieser innere Konflikt ist es, was uns in Mika Karhus Werken anspricht und nicht mehr loslässt.

Tanja Becher 2015
Studentin der Kunstgeschichte, Helsinki [:]